Frère et sœur Frankreich 2022 – 106min.

Filmkritik

Auf die Liebe und den Hass

Filmkritik: Fanny Agostino

Der Film «Frère et sœur», der 2022 im Wettbewerb um die Goldene Palme von Cannes stand, untersucht die Zusammengehörigkeit der Blutsverwandten. Als ihre Eltern sterben, müssen ein Bruder und eine Schwester, die seit über 20 Jahren zerstritten sind, einander gegenübertreten. Arnaud Desplechin schreibt eine Ode an die Geschwisterlichkeit, im Guten wie im Schlechten.

Nach der Verfilmung von Philip Roths Roman «Tromperie» (2021) scheint Arnaud Desplechin weiter an der Erforschung menschlicher Beziehungen arbeiten zu wollen. Diesmal mehr in der Abneigung als in der Liebe... Anders als man sich das vielleicht vorstellt, ist nicht ein Familiengeheimnis der Grund für den Bruch der Geschwister. Lange Zeit standen sich Alice und Louis nahe. Auf dem Rückflug nach Paris wird Louis - ein Schriftsteller, der eine Mischung aus Sylvain Tesson und Frédéric Beigbeder ist - plötzlich von einem Impuls gepackt.

Auf einem Stück Papier verfasst er einen Brief an seine Schwester. Er starrt in die Kamera und erinnert an ihre Vertrautheit aus der Kindheit, aber auch an ihre mürrische und unangenehme Art. Diese Sequenz durchbricht die vierte Wand und findet in den letzten Minuten des Films ihre Spiegelung. Denn zwischen den beiden Figuren gibt es keinen Dialog. Die unausweichliche Begegnung findet auf den Fluren des Krankenhauses statt. Als Alice ihre Eltern besucht, bricht sie beim Anblick ihres Bruders zusammen.

Ein Zusammenbruch, für den es letztlich keine plausible Erklärung gibt. Ja, Alice hasst ihren Bruder. Ja, ihr Hass ist nicht unschuldig an der späten Berühmtheit ihres Bruders, der lange Zeit in ihrem Schatten gelebt hat. Ja, der Tod von Louis' Sohn hat die Gemüter zerrüttet. Aber dieses Gefühl ist zeitlich diffus. Zwanzig Jahre später hat sich die Vernunft verflüchtigt. Der Groll hingegen ist stetig gewachsen. Es ist verständlich, dass Desplechins dritte Zusammenarbeit mit Marion Cotillard eine massgeschneiderte Kreation für seine Schauspielerin ist. Wie in «Juste la fin du monde» oder der Saga ihres Mannes «Les petits mouchoirs» (2010, 2019) zeigt ihr Spiel alle Nuancen des Zorns. Die ganze Palette des Nervenzusammenbruchs wird durchgespielt: Schreien, Nervosität, Selbstgeisselung... Eine Masslosigkeit, die auf der Leinwand so präsent ist, dass sie den Faden der Erzählung zerreisst. Das grenzt an Satire, als ob die Schauspielerin aus «La môme - La vie en rose» (2007) sich selbst in diesem Vorgabenkatalog eingeschlossen hätte.

Weder das Spiel von Melvil Poupaud noch die Extravaganzen von Arnaud Desplechin – man denke nur an eine Szene, in der Louis nach der Einnahme von Opium durch die Strassen schwebt - können das sinkende Schiff retten. Was Patrick Timsit als besten Freund, Psychoanalytiker und abgewiesenen Liebhaber betrifft, so ist die Feststellung eindeutig: Seine Darstellung reproduziert die Stereotypen des melancholischen, feierwütigen besten Freundes. Dem Schauspieler gelingt es nicht, dieser wackeligen Figur Konsistenz zu verleihen.

Thematisch relevant, werden die Unschärfe und die unverständlichen Zusammenhänge der Geschwisterbeziehungen leider durch die Überbetonung von Gewalt und Groll überdeckt. Auf der Leinwand kann man diesen tiefsitzenden Hass nicht leugnen, aber musste das so sein? Der letzte Teil des Films löst das Rätsel jedoch auf. Der Schmerz lässt nach, die Ausdauer des Publikums auch.

Übersetzung aus dem Französischen durch Maria Engler

04.05.2023

3

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