Auf der anderen Seite Deutschland, Türkei 2007 – 120min.

Filmkritik

Chronik zweier angekündigter Tode

Kyra Scheurer
Filmkritik: Kyra Scheurer

Eine Türkin kommt in Deutschland ums Leben, eine Deutsche stirbt in der Türkei - einmal rollt ein Sarg auf dem Istanbuler Flughafen heraus, einmal hinein. Ganz so schematisch wie diese Spiegelung klingt, ist Fatih Akins neuer Film nicht konstruiert, wenngleich es gelegentlich ordentlich knirscht im komplexen dramaturgischen Gebälk, dessen gehäufte Dramatik sich in Händen eines schlechteren Regisseurs leicht hätte verselbständigen können.

Die Schicksale von sechs Menschen kreuzen sich in "Auf der anderen Seite" und werden irgendwo zwischen Deutschland und der Türkei mehr oder weniger kunstvoll verwoben: Der pensionierte Ali, typischer Gastarbeiter der ersten Stunde, erschlägt in Bremen eher aus Versehen die Prostituierte Yeter, die er zu seiner Lebensgefährtin machen wollte. Alis Sohn Nejat, Germanistikprofessor in Hamburg, bemüht sich daraufhin in der Türkei, Yeters Tochter Ayten aufzuspüren. Die hat derweil längst als kurdische Aktivistin Zuflucht im deutschen Untergrund gesucht und dabei die Studentin Lotte kennen und lieben gelernt.Während Nejat in einem deutschen Buchladen in Istanbul ein neues Zuhause findet, nehmen verschiedene unheilvolle Entwicklungen ihren Lauf. Viel Stoff für immerhin 122 Minuten, doch die Handlung ist klar strukturiert - die Tode werden sogar als ankündigende Zwischentitel den Kapiteln vorangestellt -, das Gespür für das Timing sicher und die Erzähl-Ökonomie beachtlich.

Kein Wunder also, dass Autorenfilmer Akin dafür in Cannes den Drehbuchpreis erhielt? Angesichts des fertigen Films nicht, der allerdings ist ganz anders strukturiert als das Drehbuch. Das - nach Akins eigener Einschätzung fast perfekt und in der Produktionsphase dazu in der Lage, allein aufgrund seiner Strahl- und Aussagekraft die gesamte Finanzierung schließen zu können - erwies sich im Montageprozess als weniger tragfähig als vermutet: Die Schnittfassung, die alle genau abgedrehten Szenen in Buchfolge aneinanderreihte wurde verworfen. Auch dank des großartigen Gespürs von Akins Stammcutter Andrew Bird entstand in einem langen Dialog der Film, den wir jetzt sehen und dessen Rhythmus stimmig, dessen Erzählduktus erstaunlich unaufgeregt ist und der die Bilder atmen lässt.

Die emotionale Wucht von "Gegen die Wand" lässt dieser zweite Teil von Akins "Liebe, Tod und Teufel"-Trilogie freilich vermissen - aber ein souveräner, erwachsener Film ist es geworden, nachdenkliches Erzählkino. An manchen Stellen etwas zu didaktisch vielleicht, in der Darstellung der jungen Deutschen Lotte und deren von Hannah Schygulla gewohnt nervig-ätherisch verkörperten Mutter gelegentlich naiv und klischeehaft, ansonsten aber großartig gespielt und nah an Akins Themen, die unsere Kinolandschaft entschieden bereichern. Das Pendeln zwischen zwei Welten ist gut ausbalanciert im bisher türkischsten Film des Regisseurs, Fremdheit und unbewusste Ähnlichkeiten im Vater-Sohn- und Mutter-Tochter-Konflikt werden sensibel entlarvt und auch das politische Klima in der Türkei ist gut beobachtet.

In wenigen Strichen werden Machtverhältnisse, etwa zwischen Männern und Frauen unter den Politaktivisten oder unter den Insassinnen des türkischen Frauengefängnisses, skizziert und vor dem Hintergrund des EU-Beitritts der Türkei besonders brisante Themen angesprochen, etwa wenn die Aktivistinnen bei der Festnahme ihre Namen skandieren um nicht anonym in Gefängnissen zu verschwinden. Das eigentlich Besondere des Films aber liegt in der gelassenen Beiläufigkeit, mit der Akin etwas auch für heutige Zeiten Außergewöhnliches erzählt: Das Selbstbestimmungsrecht der Frauen, egal welcher Herkunft. Ob sie als Prostituierte arbeiten, sich politisch engagieren, sich in andere Frauen verlieben, ihr bisheriges Leben aufgeben und neu anfangen - entschieden haben sie immer selbst, ganz selbstverständlich.

15.02.2024

4

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Kommentare

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Serkan

vor 16 Jahren

Mal was anderes.
Reisst mit.
Fatih Akin hat's wiedermal bewiesen.


raffi44

vor 16 Jahren

ich war fasziniert..


ccbaxter

vor 17 Jahren

Der Film entwickelt einen unerhörten Sog. Anfangs schaut man von aussen zu, aber mit der Zeit ist man wie gefangen von diesem kaftvollen Film. Stark.


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