Interview26. Dezember 2019 Irina Blum
Regisseurin Lulu Wang im Interview zu «The Farewell»: "Die Wahrheit ist manchmal schräger als Fiktion."
Mit der Geschichte über ihre chinesische Familie, die der Grossmutter deren unheilbare Krankheit verschweigt und eigens für ein letztes Wiedersehen eine Hochzeit arrangiert, ist der Asia-Amerikanerin Lulu Wang ein Überraschungshit gelungen: «The Farewell» trifft über Kulturen hinweg mitten ins Herz. Wir haben die 36-jährige Regisseurin am Zurich Film Festival zum Interview getroffen.
Der Film kam in Amerika extrem gut an. Wie waren die Reaktionen der asiatischen Community in Amerika?
Lulu Wang: Es ist sehr emotional für sie, weil sie sich noch nie auf diese Art und Weise auf der Leinwand gesehen haben. Filme sind entweder asiatisch oder amerikanisch – in den Filmen aus China sehen sie sich kulturell nicht, den Figuren in amerikanischen Filmen ähneln sie optisch nicht.
In den ersten Minuten des Films telefoniert die Hauptperson Billi in New York mit ihrer Grossmutter in China auf Mandarin. Nicht nur Chinesen, sondern jegliche Art von Immigranten finden im Film ihr Leben widergespiegelt. Viele Leute kommen nach dem Film weinend auf mich zu, weil sie so etwas noch nie erlebt haben.
Hat der Film mit dem zentralen Thema der Migration auch Kontroversen ausgelöst, mussten Sie da eine gewisse Diplomatie zeigen?
Lulu Wang: Mein Vater ist ein Diplomat (lacht). Ich glaube nicht, dass das Thema selbst kontrovers ist. Es war aber schwierig, die Finanzierung für das Projekt zusammenzukriegen. Da kein grosses Filmstudio Interesse an der Geschichte hatte, habe ich sie zuerst als Podcast auf «This American Life» herausgebracht.
Die Produzenten kannten die Geschichte daher schon. Das eigentlich Kontroverse an der Geschichte war vielmehr, dass es ein amerikanischer Film ist, von dem 75% chinesisch gesprochen ist. Für amerikanische Produzenten war das zu chinesisch, in China war hingegen die Hauptfigur zu amerikanisch und die Story zu alltäglich: Jeder lügt dort. Es war schwierig, den Film zu machen aus der Perspektive von jemandem, der zwischen diesen Kulturen steht.
Wird der Film unterschiedlich aufgenommen je nach Land, in dem er gezeigt wird?
Lulu Wang: Ja, definitiv – der Film hat in China am Shanghai Film Festival Premiere gefeiert, und die Leute lachen an anderen Stellen und weinen an anderen Stellen.
Awkwafina, die ihre Karriere als Rapperin begonnen hat, spielt im Film die Hauptperson Billi. Wie kam es dazu?
Ich hatte sie nicht auf dem Radar, aber meine Produzenten haben mich auf sie aufmerksam gemacht. Ich kannte sie von meinem Bruder als Rapperin, zum Beispiel aus "My Vag". Ich fand das super, hätte sie aber nie als Schauspielerin in Betracht gezogen, geschweige denn als Schauspielerin in einer Tragikomödie.
Sie hat jedoch das Drehbuch gelesen und war begeistert: Sie konnte sich gut in die Figur einfühlen, weil sie in New York von ihrer chinesischen Grossmutter aufgezogen wurde und genau weiss, wie es sich anfühlen würde, sie zu verlieren. Nachdem wir uns in Brooklyn auf einen Kaffee getroffen haben, hat sie ein Audition Tape eingeschickt, und da wusste ich, dass sie grossartig sein würde – sie konnte diesen Schmerz nachvollziehen, aber auch, wie es sich anfühlt, immer der Aussenseiter zu sein.
Hätten Sie den Film machen können, wenn Sie nicht chinesische Wurzeln hätten?
Lulu Wang: Zunächst einmal könnte niemand sonst «The Farewell» machen, da es meine persönliche Geschichte ist. Aber ich hatte selbst Zweifel, denn sogar meine Mutter hat gemeint: "Wie kannst du einen Film über chinesische Eigenheiten machen, du bist keine Chinesin". Ich bin da also sehr bewusst herangegangen. Ich kenne meine Familie nicht so, wie ich das vielleicht tun sollte und bin mit meiner Darstellung vielleicht nicht genügend respektvoll.
Ich finde aber, dass man sich manchmal entscheiden muss, ob man etwas wahrheitsgemäss oder respektvoll macht – das geht meist nicht gleichzeitig. Darum habe ich das Drehbuch im Entstehungsprozess häufig meiner Familie vorgelegt, und wenn sie etwas nicht gemocht haben, war die Frage: "Magst du das nicht, weil du es peinlich findest, oder weil es nicht der Wahrheit entspricht?"
Sie haben in Ihrer Heimatstadt in China gedreht, womit Ihre Familie zwangsläufig auch viel vom Dreh mitbekommen hat. Hat das die Perspektive der Familie verändert?
Genau, wir haben zum Beispiel am echten Grab meines Grossvaters gedreht. Dadurch waren alle sehr involviert, es hat aber die Haltung der Familie nicht verändert. Ich glaube, der Film gibt ihnen in einem gewissen Masse recht, weil er so viel Freude verbreitet. Rückblickend will nun auch niemand derjenige sein, der ihr die Wahrheit erzählt und dann vielleicht dafür verantwortlich sein könnte, wenn sie stirbt – und sie ist jetzt 86 Jahre alt. Sogar mein Vater, der zunächst skeptisch war, steht jetzt hinter der Lüge.
Auch ich habe Angst davor, dass sie den Film sieht – dann würde sie realisieren, dass wir sie während sieben Jahren angelogen haben. Sogar wenn sie zum Beispiel erst mit 90 Jahren sterben würde, hätte ich Gewissensbisse, weil sie vielleicht nur wegen meinem Film gestorben ist – man weiss ja nie (lacht).
Was hat es mit dem Ende des Films auf sich, in dem Sie zurück zur Realität gehen?
Lulu Wang: Vieles dreht sich in «The Farewell» um das Abschiednehmen. Jedes Mal, wenn ich China verlasse, muss ich mich von meiner Grossmutter verabschieden mit dem Gedanken, dass ich sie vielleicht nie wiedersehe – seit 20 Jahren habe ich dieses Gefühl. Die ethische Frage, ob die Lüge im Film eine gute Lüge ist, kann ich deshalb persönlich nicht beantworten.
Ich weiss aber, wie es im echten Leben weitergegangen ist – und so amerikanisch wie ich auch bin und an die Wahrheit glaube, so ist es doch Fakt, dass ich der Lüge nicht absprechen kann, dass sie vielleicht geholfen hat. Ich möchte den Zuschauer mit demselben moralischen Konflikt aus dem Kinosaal entlassen, wie ich ihn habe: Die ganze Sache ist extrem kompliziert.
Viele Zuschauer mit westlicher Weltsicht verurteilen die Familie dafür, dass sie lügt. Wenn man am Ende jedoch mit der Wahrheit konfrontiert wird, lässt einen das nachdenklich zurück. Es ist ein Reminder, dass der Film nicht reine Fiktion ist, sondern ihm eine wahre Geschichte zugrunde liegt – denn manchmal ist die Wahrheit schräger als Fiktion.
Wie sehen Sie der nahenden Award-Saison entgegen?
Ich finde es spannend – nicht, weil ich glaube, dass damit das grosse Geld gemacht werden kann, aber weil wir damit ein Teil der Diskussion werden. Ich werde zu Roundtables eingeladen mit etablierten Filmemachern wie Tarantino oder Scorsese. Als nächste Generation von Filmemachern will ich ein Zeichen setzen: Wir sind mehr Frauen, es gibt mehr Durchmischung, was die Hautfarbe angeht. Wir führen die klassische Tradition des Filmemachens weiter – auf eine Art, die mehr unterschiedliche Stimmen beinhaltet.
Waren Werke wie der unglaublich erfolgreiche Film «Crazy Rich Asians» Wegbereiter für asiatisch-amerikanische Geschichten in Hollywood?
Auf eine gewisse Weise sicherlich, auch weil man das erste Mal mit dieser Thematik konfrontiert war. Wir haben mit «The Farewell» aber begonnen, bevor «Crazy Rich Asians» in die Kinos kam. Meine Produzenten haben dem Projekt grünes Licht gegeben, weil sie sich mit der Geschichte identifizieren konnten, und ich denke, dass dies die bessere Art des Filmemachens ist: Dass man unterschiedliche Geschichten erzählt, die menschlich sind. Und nicht, dass man irgendwelche Quoten erfüllen will, weil es gerade einem Trend entspricht.
«The Farewell» ist ab dem 26. Dezember in den Deutschschweizer Kinos zu sehen.
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